Individualität im Fokus
Die Referentin hob hervor, dass logopädische Interventionen typischerweise in Einzeltherapiesettings stattfinden. Daraus ergibt sich ein methodischer Bedarf, der sich von dem evidenzhierarchisch höher eingeordneten, aber stärker standardisierten Ansatz randomisiert kontrollierter Studien (RCTs) unterscheidet: Während RCTs gruppenbasierte Durchschnittseffekte erheben und auf Generalisierbarkeit zielen, geht es in der Einzelfallforschung darum, individuelle Verläufe und Veränderungsdynamiken detailliert und kontextbezogen abzubilden.
Methodenvielfalt in der Einzelfallanalyse
Am Fallbeispiel eines Patienten mit schwerer Aphasie demonstrierte Prof. Dr. Jung verschiedene Auswertungsverfahren, die über klassische Vorher-Nachher-Vergleiche hinausgehen. Neben inferenzstatistischen Ansätzen kamen auch visuelle Verlaufsanalysen, Überlappungsindices sowie modellbasierte Verfahren wie Piecewise Linear Models zur Sprache. Diese Methoden erlauben es, Therapieprozesse über die Zeit hinweg zu analysieren und dabei individuelle Leistungsschwankungen sowie deren zeitliche Bezüge differenziert zu erfassen.
„Um Therapieeffekte oder -verläufe wirklich zu verstehen, genügt eine reine Prä-Post-Messung nicht. Für eine adaptive, patientenzentrierte Therapie ist es notwendig, Entwicklungen kontinuierlich zu beobachten und darauf reagieren zu können“, erläuterte Prof. Dr. Jung.
Interdisziplinärer Austausch als Ziel
Ein zentrales Anliegen des Vortrags war der Austausch über methodische Zugänge zwischen den Disziplinen. Prof. Dr. Jung ist Mitglied eines 2022 gegründeten Arbeitsbündnisses „Einzelfallorientierte Forschung in der Logopädie/Sprachtherapie“, in dem Vertreter und Vertreterinnen aus Psychologie, Pädagogik und Sprachtherapie zusammenarbeiten. Ziel ist es, methodische Standards weiterzuentwickeln und den Beitrag einzelfallbasierter Evidenz im wissenschaftlichen Diskurs zu stärken.
„In der logopädischen Praxis steht der einzelne Mensch mit individuellen Bedürfnissen, Ressourcen und einem sozialen Umfeld im Zentrum. Diese Einzigartigkeit lässt sich nicht immer sinnvoll in standardisierte Studiendesigns übersetzen. Die Orientierung an medizinischen Evidenzkriterien wie denen der RCTs greift hier unter Umständen zu kurz – nicht, weil sie methodisch mangelhaft wären, sondern weil sie die klinische Realität oft nur begrenzt abbilden. Einzelfallforschung ist daher kein Gegensatz zur evidenzbasierten Praxis, sondern ein ergänzender Baustein“, betonte Prof. Dr. Jung.
Der Vortrag machte deutlich: Zur Sicherung der Qualität logopädischer Therapie bedarf es eines methodisch offenen Verständnisses von Evidenz. Neben robusten Wirksamkeitsnachweisen durch RCTs braucht es analytische Verfahren, die individuelle Verläufe sichtbar und nutzbar machen – ein Beitrag, den die Einzelfallforschung auf einzigartige Weise leisten kann.
Weitere Informationen zum Studiengang Logopädie finden Sie hier.
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